Moderne Impfstoffkonzepte: Bedeutung für die Praxis

Von immunologischem Basiswissen über Missverständnisse der COVID-19-Pandemie bis hin zum Immunsystem als pubertierender Teenager: Unterhaltsam und kurzweilig fasste Prof. Dr. Tomas Jelinek auf dem diesjährigen DGIM moderne Impfstoffkonzepte zusammen und ordnete ihre Bedeutung für die Praxis ein. Ihr Überblick.

3. Januar 2024
Lesedauer: 4 Min.
Impfung gegen Grippeimpfstoff

Wie war das nochmal? – Immunantwort kurz erklärt

Mit Impfungen wird eine natürliche Infektion simuliert – inklusive aller Stufen der Immunreaktion. Welche das sind, ist in den folgenden Ausklappmenüs kompakt und vereinfacht zusammengefasst:1–3

  • Unspezifische Antwort: Schnell gegen Eindringlinge

    Dringt ein Pathogen in den Körper ein, wandern zunächst Zellen des angeborenen Immunsystems in den Bereich des Infektionsherdes ein. Sie haben zum Ziel, die als fremd erkannten Strukturen zu eliminieren. Diese erste schnelle und unspezifische Reaktion kann so effizient sein, dass keine weiteren Vorgänge erforderlich sind. Ist sie das nicht, wird die langsamere spezifische Immunantwort – ein Charakteristikum, das ausschließlich Wirbeltieren vorbehalten ist – eingeleitet.

  • Spezifische Antwort: Entscheidungsfreudig und effektiv

    Das Pathogen / Antigen wird von Antigen-präsentierenden Zellen (APC) aufgenommen. Nach ihrer Aktivierung wandern diese in den Lymphknoten. Dort übernehmen sie ihre namensgebende Funktion und präsentieren das Fremdantigen den T-Helferzellen. Diese sind in der Lage, zu „entscheiden“, ob und in welchem Ausmaß eine weitere spezifische Reaktion des Immunsystems erforderlich ist. Ist das der Fall, werden Killerzellen aktiviert, um Strukturen zu bekämpfen, die das präsentierte Antigen exprimieren. Gleichzeitig findet eine Stimulation von B-Lymphozyten statt. Diese produzieren zunächst extragerminal Antikörper mit einer relativ niedrigen Affinität / Avidität, bis sie intragerminal zur Synthese von Antikörpern mit höherer Bindungsqualität reifen. Es folgt die Bindung der Antikörper an das Antigen sowie die Unterstützung der Killerzellen über den opsonierenden Effekt.  

  • Ausgleichende Reaktion: Auf die Balance kommt es an

    Um überschießende Reaktionen zu vermeiden, werden parallel zur Aktivierung des Immunsystems stets auch hemmende Komponenten wie regulatorische T-Zellen stimuliert. Das Gleichgewicht verschiebt sich im Laufe der Infektion von einer zunächst stärkeren Aktivierung der Immunreaktion hin zu einer zunehmenden Hemmung.

  • Langzeitimmunität: Das Immunsystem vergisst nicht

    Ausrufezeichen

    „Einer der Schlüsselpunkte, die wir in den letzten 20 Jahren gelernt haben, ist, dass die eigentliche Langzeitimmunität über die Gedächtniszellbildung läuft.“ Prof. Dr. Tomas Jelinek

    Gedächtniszellen werden im Lymphknoten gebildet und verteilen sich von dort aus in weitere immunkompetente Organe. Dadurch sind sie im Blut nicht messbar und können nicht zur Bestimmung der Immunität herangezogen werden. Sie erlauben bei Folgekontakten mit einem bereits bekannten Erreger den Aufbau einer soliden spezifischen Immunantwort – teils innerhalb von Stunden. Es handelt sich dabei um einen Boostereffekt, der auch beim Impfen genutzt wird. Der Maßstab für den Langzeitschutz vor einer Erkrankung sei nicht die Immunogenität in Form der Antikörpertiter, sondern die Boosterfähigkeit, gibt Prof. Jelinek zu bedenken.

Sterile Immunität gegenüber Atemwegsinfekten: Auf das Wo kommt es an

„Der Clou ist, dass das entsprechende Antigen in der Vakzine enthalten ist und am richtigen Ort gegeben wird. Wenn alles zusammenpasst, kann ein guter Effekt erzielt werden.“

Prof. Dr. Tomas Jelinek

Als ein Missverständnis der COVID-19-Pandemie bezeichnet Prof. Jelinek die Ansicht, dass durch die intramuskuläre Injektion der COVID-19-Vakzinen eine Schleimhautprotektion möglich sei. Grundsätzlich sei zu unterscheiden: Mit der intramuskulären Applikation kann eine systemische Immunantwort erzielt werden, sodass ein Schutz gegen die Erkrankung und deren Komplikationen zustande kommen kann. Das Virus kann sich jedoch trotzdem initial auf den Schleimhäuten vermehren und so kurzfristig weitergegeben werden. Um Infektionsketten aerogen übertragener Erreger zu durchbrechen, ist daher eine lokale intranasale Immunisierung notwendig.4 Die Entwicklung solcher Vakzine gestalte sich jedoch technisch schwierig, so der Experte.

 

Impfstoff gesucht: tot oder lebendig 

Mittlerweile ist eine Vielzahl unterschiedlicher Impfstoffe zur Anwendung verfügbar. Dazu gehören unter anderem attenuierte Lebendimpfstoffe. Diese Vakzine sind effektiv, enthalten allerdings vermehrungsfähige Erreger. Das könne z. B. bei einer Immunsuppression zu einer Erkrankung führen, gibt Prof. Jelinek zu bedenken. Eine Lebendimpfung ist bei dieser Patientengruppe daher kontraindiziert.5

Bei Totimpfstoffen sei dagegen die Crux, konstatiert der Infektiologe, dass die inaktivierten Erreger oder die selektive Verabreichung von Antigenen, die für die Virulenz des Pathogens verantwortlich sind, für das Immunsystem keine Gefahr mehr darstellten und damit die Immunantwort eher gering ausfällt. Die Herstellung sei laut dem Experten auch relativ aufwändig und zeitintensiv. Dahingehend hat die COVID-19-Pandemie einen großen Durchbruch ermöglicht: Die ersten mRNA-Impfstoffe wurden zugelassen. Durch diese Technik ist es möglich, die Antigenproduktion in den Impfling zu verlagern. Gleiches gilt für Vektor-Impfstoffe.

„Stellen Sie sich vor, Sie seien ein Polysaccharid-Impfstoff und das Immunsystem ein pubertierender Teenager. Sagen Sie diesem, er solle sein Zimmer aufräumen, fällt die Antwort meist mürrisch verhalten aus – er merkt sich die Aufgabe nicht. Sagen Sie ihm mehrfach, er solle sein Zimmer aufräumen, kommt es schließlich zur Totalverweigerung.“

Prof. Dr. Tomas Jelinek

Eine Lösung: Konjugatimpfstoffe – eine Kombination der Zuckermoleküle mit einem Eiweiß, die eine effektive Immunantwort auslösen kann.6

Weiterhin werden zur Optimierung der Immunreaktion auf Totimpfstoffe Adjuvantien genutzt. Es handelt sich hierbei nicht um Zusatz-, sondern um Hilfsstoffe. Die Substanzen stellen selbst kein Antigen dar, sorgen jedoch für eine effizientere Immunantwort auf das in der Vakzine enthaltene Antigen. Sie nehmen eine Schlüsselrolle bei der Wirkung von Totimpfstoffen ein. Klassisch werden Salze wie Aluminiumhydroxid eingesetzt. Durch die „Verletzung“ der antigenpräsentierenden Zelle in Form einer lysosomalen Ruptur wird eine Kaskade in Gang gesetzt, die letztlich die Immunreaktion verstärkt.7–9 Eleganter und effektiver seien jedoch neuere Adjuvantien, konstatiert Prof. Jelinek.

„Bestes Beispiel ist der Herpes-Zoster-Totimpfstoff mit einer guten Immunogenität und Protektion. Dem zugrunde liegt die effektive Stimulation des Immunsystems durch das Adjuvans.“

Prof. Dr. Tomas Jelinek

Wichtig sei die konsequente Impfung mit wirkoptimierten Impfstoffen insbesondere vor dem Hintergrund der physiologischen Alterung des Immunsystems, betont Prof. Jelinek. Denn die Immunoseneszenz führt zu:10–12

  • Erkrankungen, die mit chronischer Stimulation des Immunsystems assoziiert sind (Inflammaging)
  • Erhöhter Anfälligkeit für Malignome, Autoimmunerkrankungen und Infektionserkrankungen

Die Folge: Eine verstärkte Morbidität und Mortalität im Alter.

 

Daher auch im Alter: Immunisierung fortführen

  • Boosterungen weitgehend erfolgreich
  • Antikörperanstieg oft verzögert bei verminderter Quantität, aber ausreichender Qualität
  • Priming vor Erreichen der Immunoseneszenz anstreben, da Immungedächtnis dann hochwertiger und langlebiger ist
  • Früher Beginn von Impfungen führt zu „Trained Immunity“
  • Spezifische für die Altersgruppe ratsame Impfungen: z. B. Influenza, Pneumokokken*
  • Individuell durch Risikoänderung notwendige Erstimpfungen: z. B. FSME, Reiseimpfungen*

*Bitte beachten Sie auch die aktuellen Empfehlungen der STIKO.5

 

Der Referent:

Prof. Dr. Tomas Jelinek

  • Medizinischer Direktor des BCRT (Berliner Centrum für Reise- und Tropenmedizin)
  • Wissenschaftlicher Leiter des CRM (Centrum für Reise- und Tropenmedizin) Düsseldorf
  • Lehrbeauftragter der Universität zu Köln (Institut für Medizinische Mikrobiologie, Immunologie und Hygiene)
  • Consulting Expert der WHO

 

Referenzen

1. Plotkin SA et al. Plotkin’s Vaccines, 7th Edition. Philadelphia: Saunders; 2017.

2. Kurosaki T et al. Nat Rev Immunol 2015; 15(3): 149–159. 3. Pollard AJ & Bijker EM. Nat Rev Immunol 2021; 21(2): 83–100.

4. Krammer F. Nature 2020; 586(7830): 516–527.

5. Epidemiologisches Bulletin 4/2023. 26. Januar 2023.

6. Niehues T et al. Impfen bei Immundefizienz – Anwendungshinweise zu den von der Ständigen Impfkommission empfohlenen Impfungen. (I) Grundlagenpapier. Bundesgesundheitsbl 2017; 60: 674–684.

7. Future Science Group 2010.

8. Schroder et al. Vaccine 2010.

9. Didierlaurent et al. Expert Rev Vaccines 2017; 16(1): 55–63.

10. Weinberger B et al. Clin Infect Dis 2008; 46(7): 1078–1084.

11. Aw D et al. Immunology 2007; 120(4): 435–46.

12. Gavazzi G & Krause KH. Lancet Infect Dis 2002; 2(11): 659–666.

Grundlagen Impfung